Gefängnisse
bauen oder nachdenken
Veranstaltung
am 19.03.2006 – Evangelisches Forum Altenholz/Kiel.
von
Ton Veerkamp, Lemgow
1. Einige
Symptome
Nach
einer Leitungssitzung eines Pflegeheims des Konzern Vivantes erfuhr die
Pflegerin Heinisch, „dass wegen weiterer Personalkürzungen Pflegequalität
verloren gehen werde. Im Sitzungsprotokoll hieß es, die Missstände seien zu
verschweigen. Es erschien der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen
Berlin-Brandenburg und monierte erhebliche Mängel im Haus.... Eines Tages kam
die Anweisung, nachts auf Toilettengänge mit Bewohnern zu verzichten und
Windeln nur im Falle grober Verschmutzung zu wechseln. Also ließ man sie
liegen, bis es herauslief“ In ihrem Tagebuch notierte sie: „Hautarzt bestellt.
Kommt erst in zwei Wochen. Pilzerkrankungen Zimmer 622, 623, 606, 514, 506,
502.... „ Zitat aus einem großen Artikel in der Berliner Zeitung „Der
Tagesspiegel“.
Vivantes
ist ein Gesundheitskonzern, der aus der Privatisierung der städtischen Krankenhäuser
entstanden ist und der 2003 kurz vor der Insolvenz stand. Der Konzern wusste
nicht anders zu handeln, als die Pflegequalität drastisch zurückzufahren, will
heißen, dem Personal Arbeitsbedingungen zuzumuten, die es ihnen unmöglich
macht, sich um Menschen zu kümmern; stattdessen müssen sie immer mehr „Pflegefälle“
in immer weniger Zeit abarbeiten. Erhöhung der Arbeitsproduktivität, sagt der
Ökonom. In der Industrie und in vielen Dienstleistungsbereichen nimmt durch den
technologischen Fortschritt die Arbeitsproduktivität deutlich zu: mit weniger
Leuten wird mehr produziert. In anderen Bereichen nimmt sie nicht oder wenig
zu, etwa im vielen Handwerksbranchen. Deswegen werden Handwerker relativ immer
teurer und nimmt in diesem Bereich die Schwarzarbeit schneller zu.
In
Dienstleistungssektoren wie Gesundheit kann Arbeitsproduktivität kein Kriterium
sein; mehr Patienten behandeln oder pflegen in immer weniger Zeit bedeutet, der
Unmenschlichkeit
Tür und Tor zu öffnen. Hier hat die „gesunde“ Betriebswirtschaftslehre nichts
zu suchen. Gesundheit muss Non-profit business bleiben und
Betätigungsfeld des öffentlichen Sektor. Privatisierungen müssen hier
unterbleiben, Krankenhauskonzerne haben an der Börse nichts verloren.
Allenfalls kann und soll man durch bessere Organisation Abläufe effektiver
gestalten. Ähnliches muss sich die Kirche sagen lassen, wenn sie sich von Unternehmensberatern
vorschreiben lassen, abstrakte Personalschlüssel anzuwenden. Ein Seelsorger
kann genauso wenig wie ein Arzt „effizient“ und „produktiv“ sein.
Vor zwei Wochen legte der
Innensenator Berlin den Kriminalitätsbericht 2005 vor. Die Zahlen in Jugendbereich
gehen zurück, weil es insgesamt weniger Jugendliche gibt als noch vor fünf
Jahre. Nicht aber bei Jugendlichen mit nicht-deutschem Hintergrund. Hier hat
inzwischen jeder dritte männliche Jugendliche Erfahrungen mit der Justiz
gemacht, meistens in der Form der Inhaftierung. Die Bevölkerung mit
nicht-deutschem Hintergrund erreicht inzwischen eine Zahl von 12% der
Gesamtbevölkerung. Hier gibt es viele Kinder und Jugendliche. Hier bricht eine
ganze Bevölkerungsschicht weg.
Einige Zahlen:
In den Niederlanden waren 1994 durchschnittlich
8735 Personen inhaftiert, 2002 waren es 13760, im Jahr 2004 über 16.000
Personen, eine Zuname von 84%: Die Zahl der Inhaftierten betrug ziemlich genau
0,1% der Gesamtbevölkerung.
In den USA waren diese Zahlen wie folgt: 1994
1.300.000 inhaftierte Personen, 2004 2.100.000 Personen, eine Zunahme von
800.000 Personen oder 62%. Das bedeutet heute: 0,8% der Gesamtbevölkerung.
Damit Sie sich diese Zahlen etwas mehr veranschaulichen können. Hätten wir in
Deutschland die Rate der USA, müssten wir etwa 700.000 Häftlinge haben; noch
haben wir aber 70.000.
Ein Lehrer aus Berlin-Lichtenrade schreibt am 13.
März: „In fast allen Schulen in allen Bezirken brennt es lichterloh. Die
Schule, an der ich unterrichte, hat sich schon in September 2005 an den
Schulsenator gewandt. Wir haben bis heute keine Antwort bekommen. Der Schulrat
forderte uns stattdessen auf, mit anderen Behörden (Polizei, Jugendamt)
zusammenzuarbeiten. Wir haben darauf hingewiesen, dass alle Institutionen, die
Jugendarbeit betreiben und mit denen wir bereits jetzt kooperieren, unter
Sparzwang stehen und dort bis zu 40% und mehr eingespart wurde. Die Antwort des
Schulrats: „Seien Sie froh, dass es die 60% noch gibt.“ Unser Schulsystem
erreicht die Problemjugend kaum noch. Das gilt für alle große und die meisten
kleinen Länder der Europäischen Union, es gilt sicher für die USA.
2. Aber die Krankheit ist das System; in ihm gibt es keine wirklichen Alternativen
Diese kleine Phänomenologie lässt sich beliebig
lang fortsetzen. Die Gesellschaften in den Ländern der Europäischen Union
leiden alle unter den gleichen Problemen. In entscheidenden Sektoren des gesellschaftlichen
Lebens können wir die Probleme nicht lösen. Es gibt einen ständigen Wechsel der
politischen Akteure. Mal scheitern die Konservativen, mal die Sozialdemokraten.
Der Satz: „Es gibt keine Alternative“ war früher – in Munde seiner
Erfinderin Margareth Thatcher aus dem Jahr 1984 ein Bekenntnis des neoliberalen
Glaubens, das nunmehr alles besser werden wird. Jetzt ist der Satz im Munde
Schröders aus dem Jahre 2005 ein Satz der Kapitulation vor den Problemen.
Die Probleme werden nicht geringer. Wir werden wie in den USA 40% der
Bevölkerung keine zufriedenstellende und bezahlbare Gesundheitsdienstleistungen
mehr anbieten können. Wir werden ab 2025 eine verheerende Altersarmut
haben – wir reden von unseren Kindern in der vagen Hoffnung, dass dieser Kelch
an unseren Kindern vorbeigehen wird. Die durchschnittlichen Einkommen erlauben
keine zusätzlichen Ersparnisse für das Rentenalter. Wer heute arm ist, wird
später als Rentnerin und Rentner in Elend leben. Alle wissen es, in der
Politik, in großen gesellschaftlichen Organisationen und Verbänden, in den
wissenschaftlichen Instituten. Alle trösten sich mit Hohlwörtern wie
„Eigenverantwortung“, „Aufschwung“, „Reform“. Die Probleme sind also in unseren
Ländern nicht „schlechter Politik“ geschuldet, sondern einem System, dem die
Politik verpflichtet ist, das sie nicht ändern kann, wenn sie es auch wollte.
In der Einleitung zu diesem Forum wurde kritisch auf den Satz Thatchers: „There
is no Alternative“ eingegangen.
Ich habe selber immer vom Götzen TINA
gesprochen. Inzwischen fürchte ich, dass innerhalb des Systems zwar Retuschen
möglich sind, es in ihm aber keine wirkliche Alternative gibt.
Es gilt, die Alternative zu ihm zu
suchen.
Die Umstellung des Wirtschaftssystems um 1980 auf
Neoliberalismus hat ein
Vierteljahrhundert zeigen können, was es vermag. Es ist auf der ganzen Linie
gescheitert. Wir kommen nicht aus ideologischen Gründen zu dieser Feststellung,
sondern aus der nüchternen Messung der Ansprüche des Systems mit seinen
tatsächlichen Leistungen für die Menschen. Misst man der Erfolg eines Systems
an der Zunahme der Vermögen der Wirtschaftskollektive, Länder, Unternehmen
usw., dann war das System nicht erfolglos. Misst man aber das System an der
Teilhabe der Gesellschaftsmitglieder an den gesellschaftlichen Ressourcen,
Geld- und Produktivvermögen, Bildung, Kultur, dann muss man feststellen, dass
immer mehr Menschen gesellschaftlich auf ein Abstellgleis geraten. Der Rückgang
der Teilnahme an demokratischen Wahlen in den unteren Einkommensschichten ist
dramatisch und das spricht nicht für die Stabilität unserer Demokratien. Ich
könnte Ihnen stundenlang erzählen, was der Neoliberalismus aus meinem Herkunftsland,
den Niederlanden, gemacht hat. Aus einer relativ wohlhabenden Gesellschaft,
verbunden mit einer toleranten und lockeren Weise von Zusammenleben, einem
hohen Maß an politischer Partizipation der Bevölkerung, offen für vieles, was
von außen kam, wurde im letzten Vierteljahrhundert eine Gesellschaft, die das
Fremde und von außen Kommende als Bedrohung empfindet, auf Verwerfungen mit Unmut und Aggressivität
reagiert, rassistische und rechtslastige Attitüden entwickelt und in der
Toleranz kaum noch als holländische Kardinaltugend fungiert. Europa kann sich
vielleicht ein kleines, verbiestertes Land wie die Niederlande leisten, Europa
kann sich aber nicht ein Deutschland leisten, das gesellschaftliche aus dem
Ruder läuft.
Was heißt aber „scheitern“? Hat es nicht robustes
Wachstum in vielen Regionen gegeben? Sicherlich. Das Wirtschaftswachstum in den
USA und Ostasien in den achtziger Jahren, in Südasien nach 1995 was hoch. Der
Zahl der Armen habe, so sagt man, abgenommen.
Tatsächlich aber, so berichtete die Weltbank im Jahr 2002, das Wachstum
der neunziger Jahre sei spurlos an den Armen der Welt vorbeigegangen. Die
Weltbank ist nicht gerade wegen linksradikaler Neigungen bekannt. Wachstum ist
ein sehr allgemeiner und abstrakter Parameter. Sehr viel wichtiger wäre es, zu
wissen, wo das Wachstum, das heißt die Zunahme an produzierten Gütern und
Dienstleistungen, bzw. ihr Gegenwert in Geld, landet. In allen entwickelten
Industrie- und Dienstleistungsländern nimmt der Anteil derer, die weniger als
50% des Durchschnittseinkommen verdienen zu, die Anteil derer, die mehr als das
Doppelte des Durchschnittseinkommen verdienen, ebenfalls. Zwischen 1980 und
2000 wuchs in den USA die Zahl deren, die weniger als die Hälfte des Durchschnitts
verdienten, von 15% auf 23%, die, die das Doppelte verdienten von 7% auf 15%,
der Anteil der Mittelgruppen zwischen 75% und 150% des Durchschnittseinkommen
von 50% auf unter 36% nahm ab. „Die oberen 30% der Einkommensgruppen werden
sich eines steigenden Wohlstands erfreuen können. Weitere 40% werden ihr Niveau
kaum halten können. Für die restlichen 30% ist Armut angesagt.“ Das sind
natürlich sehr ungefähre Schätzungen, aber die Tendenz ist sicher. Niemand
zweifelt an der „zunehmenden Ungleichheit in den Markteinkommen“, wie das
Deutsche Institut für Wirtschaft in einer umfangreichen Studie. Markteinkommen
sind Einkommen ohne Transferleistungen. Ohne diese Leistungen wäre die
Umverteilung in Ostdeutschland noch viel ausgeprägter gewesen. Unsere
Gesellschaften werden ungleicher. Ist das schlimm? Ich verweise auf den
Umstand, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der erstaunlichen Stabilität
unserer Demokratien in der Periode zwischen 1950 und 1990 und dem ebenso
erstaunlichen Volkswohlstand auf sehr breiter Basis. Einkommensgleichheit ist
nicht dasselbe als Gleichheit unter den Menschen. Aber Ungleichheit in
Einkommen und Ungleichheit in Chancen hängen zusammen. Ein Kind aus einer armen
Familie hat nur 50%der Chancen, das Abitur zu machen, als ein Kind aus einer
wohlhabenden Familie. Niemand bestreitet das. Die erfreuliche Zunahme der Einkommen
unterer Schichten in den Jahr 1950-1970 resultierte in einer ebenso erfreulichen
Zunahme des Anteil der Arbeiterkinder an den Universitäten in den Jahren
1960-1980. Heute haben sich die realen Chancen für Kinder aus den unteren
Einkommensgruppen deutlich verschlechtert.
4. Gibt es eine Therapie?
Wir sind weit davon entfernt, eine effektive
Therapie gegen die Krankheiten, unter denen unsere Gesellschaften leiden, zu
formulieren. Niemand kann das, auch die Linkspartei nicht, auch die vielen
engagierten außerparlamentarischen Gruppen nicht. Wir müssten aber so
verantwortungsbewusst sein, eine unliebsame Diagnose zu stellen und endlich zu
akzeptieren, dass die Mittel, die der Neoliberalismus vorschreibt, den Zustand
des Patienten verschlimmert.
Aber der Patient wehrt sich. „Une grande colère“,
eine große Wut, titelte Le Monde Diplomatique in ihrer Dezemberausgabe, die der
Unruhe in den französischen Städten, November 2005, gewidmet war. Zwei große
neoliberale Projekte der Europäischen Kommission, die Cargo Port-Richtlinie und
die Bolkestein-Richtlinie, wurden vom europäischen Parlament derart
verstümmelt, dass von ihrem ursprünglichen Anliegen wenig übrig blieb. Das
Parlament reagierte auf heftige außerparlamentarische Proteste der Gewerkschaften
und solcher Organisationen wie ATTAC. Die rechtsliberale Regierung in den Niederlanden
erlitt bei den Kommunalwahlen am 7. März eine vernichtende Niederlage. In einer
repräsentativen Umfrage wollen 68% der Niederländer eine Rückname von
Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen im Transport- und
Gesundheitswesen. In Frankreich gibt es eine heftige Protestwelle, die die
Unruhen von Mai 1968 mit denen von November 2005 zu verknüpfen drohen. Sie
richtet sich gegen eine Maßnahme, die es den Arbeitgebern ermöglicht,
Arbeitnehmer unter 26 Jahren während der ersten zwei Jahren der Tätigkeit
fristlos und ohne Angabe von Gründen entlassen zu können.
Überall beginnen die Menschen zu vermuten, dass das
neoliberale Segensreich Segen für Wenige, Strapazen und Nachteile für viele
bringt. Die politischen Akteure des Systems, sei es in Regierungsverantwortlichkeit,
sei es in der offiziellen Opposition,
haben diese Signale noch nicht wirklich verstanden; zu sehr sind sie mit
den nächsten Wahlen, ihren Umfrageergebnissen und ihrem festen Glauben
beschäftigt, es gebe sowieso keine Alternative.
Wir stehen vor einer
fundamentalen Wahl, die von parlamentarischen Wahlen eher verdeckt als offen
gelegt wird. Entweder akzeptieren wir die reale Ausgrenzung von
immer mehr Menschen als den Preis, den die Mehrheit nun mal für die
Verfügungsgewalt über ihr Eigentum und für ihre Freiheit zu zahlen bereit ist.
Dann wird das größte staatliche Investitionsprogramm der Zukunft der Neubau von
Haftanstalten sein. Wie gesagt: Hätten wir die gleiche Häftlingsrate wie die
USA, dann hätten wir heute keine 70.000, sondern knapp 700.000 Häftlinge. Oder wir wollen, dass alle
Menschen eine reale und nicht nur theoretische Chance auf einen menschenwürdigen
Ort in der gesellschaftlichen Kooperation haben. Dann müssen wir beginnen,
gründlich nachzudenken über unsere Vorstellungen von Freiheit und Eigentum. Diese
Wahl ist keine moralische Angelegenheit, sondern eine politische. Niemand weiß,
ab wie viel Prozent an Ausgegrenzten eine Gesellschaft instabil wird. Ein verantwortlicher
Haustechniker begrenzt die Höchstzahl der zu transportierenden Personen auf
weniger als die Hälfte derer, die der Aufzug noch gerade verkraften könnte.
Eine Politik, die ein gewisses Maß an Ausgegrenzten für vertretbar hält,
belastet die Gesellschaft ohne ihre Belastbarkeit zu kennen. So handelt sie
grob fahrlässig und verstößt gegen die Interessen auch von denjenigen, die sich
sicher fühlen. Oder wollen Sie in einer Gesellschaft leben, in der sich
jederzeit Szenen abspielen können wie in Frankreich, November 2005?
4. Ein Fazit
In vielen alten
Geschichten steckt viel zeitlose Weisheit. Es gibt z.B. jene alte Geschichte,
wo erzählt wird, wie Odysseus sein Segelschiff an einer Stelle vorbeisteuern
musste, wo Sirenen mit betörendem Gesang ihn in den Untergang locken wollten.
Der Bemannung wurden die Ohren mit Bienenwachs verstopft, Odysseus ließ sich
mit Händen und Füßen an den Mast fesseln. Trotz seiner wütenden Befehle steuerte
die Bemannung das Schiff sicher am Strudel vorbei. Machen wir uns taub für die
Sirenengesänge: „Mehr Markt, mehr Freiheit, weniger Steuern, weniger Staat,
weniger Regelungen auf dem Arbeitsmarkt, Wachstum ohne Ende.“ Binden wir die
Politik an den Mast der Vernunft und hören wir nicht auf ihre betörenden
Empfehlungen.
Attischer
Stamnos des Sirenen-Malers um 470 v. Chr., London, British Museum
Bild aus: http://www.bhak-bludenz.ac.at/literatur/griech_antike/homer.htm